Die Jungfrau

Wo sah ich, Mädchen, deine Züge,
Die droh’nden Augen, lieblich, wild,
Noch rein von Eitelkeit und Lüge?
Auf Buonarotti’s großem Bild:

Der Schöpfer senkt sich sachten Fluges
Zum Menschen, welcher schlummernd liegt,
Im Schoße seines Mantelbuges
Ruht himmlisches Gesind geschmiegt:

Voran ein Wesen nicht zu nennen,
Von Gottes Mantel keusch umwallt,
Des Weibes Züge, zu erkennen
In einer schlanken Traumgestalt.

Sie lauscht, das Haupt hervorgewendet,
Mit Augen schaut sie tief erschreckt,
Wie Adam Er den Funken spendet
Und seine Rechte mahnend reckt.

Sie sieht den Schlumm’rer sich erheben,
Der das bewußte Sein empfängt,
Auch sie sehnt dunkel sich zu leben,
An Gottes Schulter still gedrängt –

So harrst du vor des Lebens Schranke,
Noch ungefesselt vom Geschick,
Ein unentweihter Gottgedanke,
Und öffnest staunend deinen Blick.

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