Chidhr

Ein wunderbarer Traum hat mich besucht.
Ich saß an eines Berges Hang und schaute,
In einer flüchtigen Minute Raum
Gedrängt, den Daseinswechsel langer Zeiten.
Im Tal zu meinen Füßen sah ich Blumen
Auf Blumen sich erschließen und vergehn,
Sah Bäum’ und Sträucher keimen ich und sprossen
Und wachsen, blühen, welken und vermodern,
Und sah ich Menschen von der Wiege bis
Zum Sarg des Lebens kurzen Tag durchwandeln.
Ich sah sie lachen, weinen – weinen, lachen,
Sah sie verzweifeln, hoffen und – verzweifeln,
Sah, wie das Glück dem Unglück reicht die Rechte,
Wie Unglück seine Rechte reicht dem Glück
In ewiger Kette.

Namenlose Trauer
Sank mir mit schweren Schatten in die Seele.
„Wann endlich,“ dacht’ ich, „sinnlos-blödes Spiel,
Wirst du dich enden? Auf und ab und auf
Wiegt seit Äonen sich die Lebensschaukel
– Auf einer Seite staunend sitzt das Leben,
Und auf der andern grinsend wippt der Tod –
Und auf und ab, stumpfsinnig, wird die Wippe
Durch Ewigkeiten gehn. Wo lebt der Gott,
Den dieses grause Einerlei vergnügt?
Der ärmste Menschengeist, er hätte längst
Voll Überdruß und Ekel dieses Spielzeug
Zertrümmert –!“

Wie ich also bei mir dachte,
Sah ich am Boden plötzlich einen Schatten –
Ich hob den Blick, und einen Jüngling sah ich
Mit himmelsheit’rer Stirn, wie junge Rosen
Der frohe Mund, das Auge sonnentief.
Er hob den Arm und winkte freundlich „Komm!“
„Wer bist du?“ rief ich. Er drauf: „Chidhr bin ich,
Der Grüne, Ewig-junge, der im Lande
Der Finsternis des Lebens Quellen hütet.
Komm, folge mir.“

Und Falterflug des Traumes
Entführte mich auf lautlos dunklen Schwingen
In eine schreckendüst’re Felsenwelt. –
Doch sieh, aus tiefem Spalt granit’ner Berge
Sprang bläulich-silbern einer Quelle Strahl,
Der wie ein ewig junges Lachen klang.
Und Chidhr sprach: „In hundert Jahren furcht
Der ruhlos rege Quell sein hartes Bette
Um eines Fingers Breite. Alexander,
Den bis nach Indien trug der Siegeswagen,
Stand einst wie du an diesem Lebensquell.
Seit jenem Tage grub der Silberstrang
Um einen Fuß sich tiefer ins Gestein.
Und einst wird diese Quelle im Verein
Mit ihren Schwestern diese Felsen wandeln
In ein begrüntes Tal, wie du’s verlassen.
Hier maß der göttergleiche Alexander
Sein Werk und seinen Ruhm am Maß der Welt
Und ging von diesem Ort zerstörten Herzens.
Und du, der schwach und klein ist bei den Menschen,
Kannst, wenn du willst, ein Gott von hinnen gehn.

Wohl ihm, dem Freunde sprüht aus dieser Quelle,
Wohl ihm, der ihr geheimes Lied versteht.
Wohl bleichen ihm die Lichtlein, die den Pfad
Ihm durch ein enges Leben schwach erhellten,
Die Lichtlein Ruhm, Unsterblichkeit und Macht.
Doch hinter weltenweiten Finsternissen
Geht eine Sonn’ ihm auf, die alle Sonnen
Und Sonnenchöre selig überstrahlt.
Er fühlt, wie klein der Mensch, und fühlt, wie groß,
Wie unbegreiflich schön, wie über alles
Verdienst und Ahnen göttlich sein Beruf,
Und aus dem Klang der Quelle trinkt sein Herz
Zwei Kräfte wundersam: Geduld und Sehnsucht.
Geduld, die heiß und teif verlangt, und Sehnsucht,
Die sich am Glanz des Zieles still getröstet.

O Menschen, habt Geduld, und tut es nicht
Den Kindlein gleich, die in den Boden kaum
Den Samen senkten und nach Blumen schon
Und reifen Früchten spähn! Taucht die Gedanken
Ins märchengraue Alter dieser Welt
Und steigt empor dann und erkennt, daß gestern
Der Mörder Kain seinen Bruder schlug.
Du dachtest recht, mein Freund: wär’ diese Welt
Ein Einerlei, die Macht, die sie erschaffen,
Sie hätte längst zerstört ihr blödes Spiel.
Doch sieh, soweit in diesem Reich des Lebens
Die Wasser wandern, hat noch nie ein Quell,
Noch nie ein Strom den Weg zurück genommen –
So glaube: auch der Srom des Lebens nicht.
„Vorwärts, zum Licht!“ das ist der Sinn der Quellen,
„Vorwärts, zum Licht!“ das ist der Ströme Sinn,
Die deine Seele, deinen Leib durchrinnen.
Er, der die Welt gewollt, und dessen Namen
Kein endlich Wesen nennen darf noch kann,
Er gab, daß eures Wesens tiefste Quellen
Zum Lichte gehn – und gab euch, daß ihr’s wißt.“

So sprach der Ewig-junge. Oder sprach’s
Der Quell? Im Silberklange rann zusammen,
Was Chidhr sprach und was die Quelle sang.
Und Falterflug des Traumes hob mich lautlos
Von dannen, und vom Tageslicht geblendet,
Erwacht’ ich jäh.

Am Waldesrand erwacht’ ich,
Wo singend aus dem Fels die Quelle springt,
Wo Morgenlicht von tausend Himmeln floß.

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