Die Jungfrau
Halbdunkel schon über den Thälern;
Wolken, in schwerem Zuge
Von Klippe zu Klippe sich wälzend;
Um mich zerrissene Schluchten
Und Meere von Stein, deren Wogen
Seit dem letzten Weltorkan nicht mehr branden;
Hin schweift mein Blick
Ueber Oeden, nur von Adlern bewohnt,
Empor zu den Felsensteilen,
Wo die Riesentannen,
Gleich Giganten der Vorzeit
Hoch und höher im Himmelssturme klimmend,
Sich im wallenden Dunste verlieren.
Doch sieh! zu wirbeln, zu wogen
Beginnt das Gewölk;
Die Nebeldecke zerreißt,
Und durch die stäubenden Flocken
Fern in der blauen Unendlichkeit –
Welcher Silberglanz,
Das Auge mit Strahlenschimmer blendend!
Sie ist es, sie ist's, der Berge hohe Königin,
Auf ihrem Gletscherthrone,
Hoch über die Erde den mächtigen Scheitel erhebend,
Die riesigen Glieder
Von Schneegewanden umwallt.
Schon schweigend zu ihren Füßen
Lagert die Nacht;
Doch weithin im Strahle der sinkenden Sonne
Blitzt auf ihrem Haupt die Demantenkrone,
Und, in Nebel zerflatternd, enthüllt
Der Schleier das majestätische Antlitz.
Ueber die Stirn ihr gleitet
Bleich und golden rot
Ein wechselnder Schimmer.
Plötzlich erblassend
Vor den gähnenden Tiefen des Alls,
In die der Blick ihr hinunterstarrt,
Scheint sie zurückzubeben;
Dann wieder umfliegt
Ein rosiger Glanz ihr die Züge,
Wie Widerschein von Gedanken und Träumen,
Die ihr durch die Seele ziehen.
Giebt sie mit Geistern anderer Welten
Sich Flammenzeichen?
Oder gewahrt ihr Auge
Jenseits der Erde
Ungeahnte Geheimnisse,
Daß süßes Erschrecken
Die Wangen ihr rötet?
Doch der Schimmer erlischt;
Höher empor auf den Nebeln flutet die Nacht,
Und, den sterblichen Blicken entrückt,
Mit den Sternen dort oben
Hält die Königin Zwiegespräch.
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