Das Mädchen im Hades

O wie glücklich sind die grünen Felder,
O wie glücklich sind die hohen Berge,
Welche nimmermehr den Hades schauen!
Kommt der Winter, deckt er sie mit Reif zu
Und mit dichtem flockigen Gestöber;
Kommt der Frühling, grünen sie aufs neue,
Tragen Blumen, tragen würz'ge Kräuter,
Und der Sonnenschimmer schläft auf ihnen;
Aber nimmer brauchen sie dort unten
Jene trübe Dunkelheit zu fürchten.

Hatten sich drei Riesen einst verschworen,
In das Reich der Schatten einzubrechen.
Stiegen sie hinab die dunklen Pfade,
Wanderten drei Tage und drei Nächte,
Kamen endlich in das Reich der Toten.
Wie sie alles dort erforschet hatten,
Wollten sie zurück zum Lichte kehren.
Trat zu ihnen da ein schönes Mädchen,
Blond von Haaren, aber blaß von Wangen,
Sprach die Riesen an mit sanfter Stimme:
»Nehmt mich mit hinauf, ihr lieben Riesen!
Möchte gern einmal die Sonne schauen
Und die roten Blümlein auf dem Felde.«
Drauf versetzten die gewalt'gen Riesen:
»Deine seidenen Gewänder rauschen,
Deine langen blonden Locken flüstern,
An den Füßen klappern die Pantoffeln;
Können dich nicht mit uns nehmen, Mädchen,
Charon, unser Fährmann, würd' es merken.«
Sprach das Mädchen drauf mit sanfter Stimme:
»Meine Kleider will ich von mir legen,
Will vom Haupt die langen Locken schneiden,
Die Pantoffeln laß ich an der Treppe;
Nehmt mich mit hinauf, ihr lieben Riesen!
Sehen möcht' ich meine beiden Brüder,
Wie am Herd sie sitzen, mich beweinend!
Meine Mutter möcht' ich klagen hören,
Klagen in der rauchbeschwärzten Hütte,
Daß ihr liebstes Töchterlein gestorben.«
Sprachen drauf die Riesen: »Liebes Mädchen,
Bleib nur unten bei den bleichen Schatten!
Deine Brüder singen in den Schenken,
Und dein Mütterlein schwatzt auf der Gasse.«

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