Der Urwald

Es ist ein Land voll träumerischem Trug,
Auf das die Freiheit im Vorüberflug
Bezaubernd ihren Schatten fallen läßt,
Und das ihn hält in tausend Bildern fest;
Wohin das Unglück flüchtet ferneher
Und das Verbrechen zittert übers Meer;
Das Land, bei dessen lockendem Verheißen
Die Hoffnung oft vom Sterbelager sprang
Und ihr Panier durch alle Stürme schwang,
Um es am fremden Strande zu zerreißen
Und dort den zwiefach bittern Tod zu haben;
Die Heimat hätte weicher sie begraben! –
In jenem Lande bin ich einst geritten
Den Weg, der einen finstern Wald durchschnitten;
Die Sonne war geneigt im Untergang,
Nur leise strich der Wind, kein Vogel sang.
Da stieg ich ab, mein Roß am Quell zu tränken,
Mich in den Blick der Wildnis zu versenken.
Vermildernd schien das helle Abendrot
Auf dieses Urwalds grauenvolle Stätte,
Wo ungestört das Leben mit dem Tod
Jahrtausendlang gekämpft die ernste Wette.
Umsonst das Leben hier zu grünen sucht,
Erdrücket von des Todes Überwucht,
Denn endlich hat der Tod, der starke Zwinger,
Die Faust geballt, das Leben eingeschlossen,
Es sucht umsonst, hier, dort hervorzusprossen
Durch Moderstämme, dürre Todesfinger.
Wohin, o Tod, wirst du das Pflanzenleben
In deiner starken Faust und meines heben?
Wirst du sie öffnen? wird sie ewig schließen?
So frug ich bange zweifelnd und empfand
Im Wind das Fächeln schon der Todeshand
Und fühlt es kühler schon im Herzen fließen.
Und lange lag ich auf des Waldes Grund,
Das Haupt gedrückt ins alte, tiefe Laub,
Und starrte, trauriger Gedanken Raub,
Dem Weltgeheimnis in den finstern Schlund.
Wo sind die Blüten, die den Wald umschlangen,
Wo sind die Vögel, die hier lustig sangen?
Nun ist der Wald verlassen und verdorrt,
Längst sind die Blüten und die Vögel fort.
So sind vielleicht gar bald auch mir verblüht
Die schönen Ahndungsblumen im Gemüt;
Und ist der Wuchs des Lebens mir verdorrt,
Sind auch die Vögel, meine Lieder, fort;
Dann bin ich still und tot, wie dieser Baum,
Der Seele Frühling war, wie seiner – Traum.
Als einst der Baum, der nun in Staub verwittert,
So sehnsuchtsvoll empor zum Lichte drang
Und seine Arme ihm entgegen rang,
Als nach dem Himmel jedes Blatt gezittert,
Und als er seinen süßen Frühlingsduft
Beseelend strömte weithin in die Luft –
Schien nicht sein schönes Leben wert der Dauer,
Und starb es hin, ists minder wert der Trauer,
Als mein Gedanke, der sich ewig wähnt?
Als meine Sehnsucht, die nach Gott sich sehnt? –
So lag ich auf dem Grunde schwer beklommen,
Dem Tode nah, wie nie zuvor, gekommen;
Bis ich die dürren Blätter rauschen hörte
Und mich der Huftritt meines Rosses störte;
Es schritt heran zu mir, als wollt es mahnen
Mich an die Dämmerung und unsre Bahnen;
Ich aber rief: »Ists auch der Mühe wert,
Noch einmal zu beschreiten dich, mein Pferd?«
Es blickt' mich an mit stiller Lebenslust,
Die wärmend mir gedrungen in die Brust,
Und ruhebringend wie mit Zaubermacht.
Und auf den tief einsamen Waldeswegen
Ritt ich getrost der nächsten Nacht entgegen,
Und der geheimnisvollen Todesnacht.

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