Die Stunden
Stunden hat der Tag nicht allein; den Morgen, den Abend,
Und den heißen Mittag, und die verschwiegene Nacht.
Stunden hat auch das Jahr; das Leben selber hat Stunden,
Und mit der Stunde des Tags eilt es auf Flügeln davon.
Als Aurora, die goldne, von ewigen Flammen entzündet,
Sie, die unsterbliche, sich ihrem Gemahle verlobt,
Bat sie die Götter, auch ihm unsterbliches Leben zu schenken;
Und sie gewährten den Wunsch, ewiges Leben für ihn,
Aber nicht ewiges Glück: denn dies vergaß sie zu bitten.
Memnons Erzeuger, im Arm rosiger Liebe gepflegt,
Wird ein alternder Gott: was nützt die Dauer der Jahre
Ohne der Jahre Genuß? ewig verzehrt er sich selbst.
Aehnlich ist unser Loos; der Zeit verheerende Sichel,
Was sie an Jahren läßt, mäht sie an Freuden uns ab.
Träume vergangner Zeit, wohin doch seyd ihr entflohen?
Die ihr den dürren Sand oft mir mit Blumen bestreut!
Oft, in Wolken gemalt, mit süßen Bildern mich täuschtet,
Wann ich, vergnügt mit dem Tag, froher den kommenden sah!
Ist es der Dinge wahre Gestalt, wenn nackt und entblättert,
Nur ein trauriger Dorn unserem Auge sich zeigt?
Nichts bleibt ewig bestehn; auch dies, was Leben wir nennen,
Ist ein wechselndes Rad immer erneuter Gestalt.
Unreif noch zur Geburt liegt tief im Schooße der Mutter
Eingeschlossen das Kind, fast einem Wurme noch gleich.
Dränget es dann sich hervor zum glänzenden Lichte des Tages,
Schmachtet und dämmert es auf unter Gewimmer und Schlaf.
Fröhlicher hüpft der Knab’ und führt sein gaukelndes Leben,
Von dem Momente beglückt, von dem Momente betrübt.
Aber der rasche Jüngling vertauscht sein eigenes Daseyn
Gegen fremdes Geschick, wann ihn die Liebe bethört.
Ist nun das Alter des Manns zur hohen Reife gestiegen,
Drücket des Geistes Spur tiefer den Dingen er ein;
Ehre täuscht ihn und Namen, ein immerwachsend Verlangen
Treibet ihn hin nach dem Ziel, welches er nimmer erreicht.
Nach und nach entblättert sich dann der Stamm, und die Zweige
Sinken; matt und entstellt endet der zitternde Greis.
Auch mir eilet die Stunde mit schnellerem Fittig vorüber;
Meinen Schläfen entsproßt Blüthe des Alters bereits.
Mit den Locken des Haupts entfallen Freuden und Freunde;
Nur dem schattigen Baum eilet der Wanderer zu,
Geht an dem kahlen Stamm der hohen Fichte vorüber,
Die in dem goldnen Strahl einsam den Wipfel bewegt.
Sey’s mir indessen vergönnt, am steilen Hange des Felsen,
Fernhin horchend des Pan göttlichbezauberndem Lied,
Meine Seele zu weiden; wann ringsum schweigen die Hügel,
Und mithorchend der Hain leise die Aeste nur regt.
Auch sey mir es vergönnt, zu besuchen die lieblichen Gründe,
Wo der harmonische Klang weidender Rinder mich lockt;
Dort, am Falle des Stroms, der unter Blumen herabstürzt,
Schöpf’ ich das Leben aus ihm, wie er sich lebend ergeußt.
Immer verjüngt wie er, vom Abendschimmer vergoldet,
Fließe mein Leben noch hin, unter der Büsche Gesang.
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